Über Ego-States bzw. innere Anteile: Wenn wir unseren Stimmen Raum geben
Manchmal handeln wir auf eine Weise, die uns selbst überrascht: wir ziehen uns zurück, obwohl wir Nähe möchten; wir explodieren vor Wut, obwohl wir das nie wollten; oder wir funktionieren stur weiter, obwohl wir innerlich leer sind. In diesen Momenten sind oft keine „Fehler“ der Vernunft am Werk, sondern verschiedene Stimmen — innere Anteile, sogenannte Ego-States.
Die Ego-State-Arbeit (u. a. in der Tradition von Dr. Kai Fritzsche und verwandten Ansätzen) sieht diese Stimmen nicht als Störfaktoren, sondern als Teile unserer Psyche mit Geschichte, Funktion und oft guter Absicht. Wenn wir sie kennenlernen, hören und würdigen, verändert sich die Beziehung zu uns selbst — und zu anderen.
Was sind innere Anteile genau?
Innere Anteile sind psychische Zustände oder „Fragmentierungen“ der Persönlichkeit, die in bestimmten Situationen aktiviert werden. Sie haben oft klare Gefühle, Bilder, Bedürfnisse und Verhaltensweisen. Beispiele:
Das verletzte Kind — fühlt Angst, Einsamkeit, Sehnsucht nach Nähe.
Der Beschützer — zieht dich zurück oder wird wütend, um Schaden zu verhindern.
Der Antreiber/Perfectionist — treibt dich zu Leistung, um Sicherheit oder Anerkennung zu erlangen.
Der innere Kritiker — warnt vor Fehlern, oft in harscher oder beschämender Form.
Der Rebell — widersetzt sich Regeln oder Erwartungen.
Wichtig: Kein Anteil ist „böse“. Fast immer hat er ursprünglich eine adaptive Funktion erfüllt — er hat uns geschützt, durchheilten lassen oder dafür gesorgt, dass wir Liebe oder Anerkennung bekommen.
Warum ist das Wissen über Anteile therapeutisch so kraftvoll?
Weil es eine andere Haltung zu inneren Konflikten ermöglicht. Statt etwas zu bekämpfen oder zu verdrängen, lädt die Arbeit mit Ego-States dazu ein:
zuzuhören statt zu verurteilen,
nach den Bedürfnissen hinter dem Verhalten zu fragen,
Ressourcen zu entdecken, die in scheinbar problematischen Anteilen verborgen sind,
und Integration zu fördern — also die Fähigkeit, verschiedenartige Teile in ein tragfähiges Selbst zu verweben.
In Paarbeziehungen wird das besonders deutlich: Partner:innen reagieren oft nicht nur aufeinander, sondern auf die aktivierten Anteile des Gegenübers (und die eigenen), die alte Schmerzen oder Schutzstrategien wieder aufrufen. Wenn wir an unseren Anteilen arbeiten, wird Kommunikation klarer, Verletzungen lassen sich mildern und Nähe kann wachsen.
Ein zentraler Grundsatz: Jeder Anteil hat eine Funktion
Oft möchten wir „den Kritiker“ oder „die Angst“ loswerden. In der Ego-State-Perspektive gilt stattdessen: Jeder Anteil hat eine Funktion — auch wenn seine Strategien uns heute im Weg stehen.
Der Kritiker versucht, vor Scham oder Ablehnung zu schützen. Der Rückzugsanteil will Überwältigung vermeiden. Wenn wir diese Funktion erkennen, hören die Anteile nicht mehr wie „Feinde“ zu uns, sondern wie missverstandene Familienmitglieder, die eine Aufgabe übernommen haben.
Erst wenn ein Anteil gesehen wird, kann seine Strategie transformiert werden — und seine Ressourcen freigelegt werden (z. B. Mut, Loyalität, Kreativität).
Übung: „Die Bühne der Anteile“ (5–10 Minuten)
Diese einfache Übung ist ein sicherer Einstieg, um erste Kontakte zu inneren Anteilen zu knüpfen.
Suche dir einen ruhigen Moment und setze dich bequem hin. Atme einige Male tief durch. Schließe deine Augen.
Stell dir eine Bühne vor — und du sitzt im Publikum, aufmerksam, ohne zu urteilen.
Frage innerlich: „Welcher Anteil möchte jetzt auf die Bühne kommen?“ Warte aufmerksam.
Wenn ein Anteil sichtbar wird (ein Bild, eine Stimme, ein Gefühl), nimm ihn freundlich wahr. Frage ihn: „Was möchtest du mir sagen?“ und „Was brauchst du?“
Bedanke dich für die Antwort. Beende die Übung mit ein paar tiefen Atemzügen.
Wichtig: Wenn starke Gefühle auftauchen, reduziere die Zeit oder suche therapeutische Begleitung. Diese Übung ist kein Ersatz für Therapie, aber ein erster, hilfreicher Zugang.
Wie Integration gelingen kann
Integration heißt nicht, dass alle Anteile gleichermaßen verschwinden. Es geht darum, dass sie sichtbar, gehört und in ihrer Funktion verstanden sind — und dass ein zentrierter, selbstverantwortlicher Anteil Lernprozesse moderiert. Typische Schritte in der Arbeit sind:
Kontakt herstellen (beobachten, benennen),
Validieren (Wahrnehmen der Funktion und des Schmerzes),
Ressourcenarbeit (stärken, was stützt),
Dialog-Übungen (Anteils-Dialoge, imaginative Methoden),
Alltagsintegration (neue Handlungsoptionen ausprobieren).
Schon kleine Veränderungen in der inneren Haltung — mehr Neugier statt Verurteilung — schaffen Raum für Heilung.
Für wen ist Ego-State-Arbeit sinnvoll?
Diese Arbeit eignet sich besonders für Menschen, die sich immer wieder innerlich zerrissen fühlen:
die von unterschiedlichen inneren Stimmen gesteuert werden,
die alte Muster, Scham oder intensive Emotionen besser verstehen wollen,
die den Wunsch haben, ihre Beziehung zu sich selbst klarer, liebevoller und geordnet zu gestalten,
und die daran interessiert sind, ihre Paarbeziehung entspannter und verständnisvoller zu erleben.
Wichtig zu wissen: Ego-State-Arbeit ist kein schneller Prozess. Um die inneren Anteile wirklich zu verstehen, ihnen Raum zu geben und sie zu integrieren, braucht es Geduld und mindestens sieben Sitzungen. Wer sich auf diesen Weg einlässt, erlebt, wie sich die innere Welt klarer, sortierter und annehmender anfühlt – und wie das Selbstvertrauen und die Selbststärkung Schritt für Schritt wachsen.
Abschluss & Einladung
Inneren Anteilen zu begegnen bedeutet nicht nur, sie zu verstehen, sondern sie zu spüren und anzunehmen. So entsteht Selbstakzeptanz, innere Klarheit und psychische Reife. In diesem Wahrnehmen können alte Schutzstrategien sich wandeln und die verborgenen Ressourcen der Anteile freigelegt werden.
Wenn du diesen Weg nicht allein gehen möchtest, begleite ich dich gern im sicheren Raum. Gemeinsam erkunden wir, wer in dir spricht, was diese Stimmen brauchen und wie echte Integration möglich wird, sodass du Schritt für Schritt innere Ordnung, Selbstvertrauen und Selbststärkung erfährst – und deine Beziehung zu dir selbst nachhaltig gestärkt wird.