Erkenntnisse zur Überwindung sexueller Unlust
Sexuelle Unlust, im Katalog für psychische Störungen (ICD-10), als „Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen“ klassifiziert, betrifft viele Menschen und kann erheblichen Leidensdruck verursachen. In der GESID-Studie von 2020, einer umfassenden und ersten deutschlandweiten Untersuchung zu Gesundheit und Sexualität, gaben 50 % der Frauen und 28 % der Männer an, im Laufe ihres Lebens ein reduziertes sexuelles Verlangen erlebt zu haben. Geschlechter unabhängig ist etwa jede fünfte Person in ihrem Leben stark davon betroffen – ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient und über das wir offen sprechen sollten.
Also, was steckt hinter der sexuellen Unlust?
Laut dem Paar- und Sexualtherapeuten Ulrich Clement (Dynamik des Begehrens) verlangt es oft einen Wandel von „ich kann nicht“ zu „ich will nicht“ bzw. „so will ich es nicht“. Dies drückt sich teilweise bei Männern in Erektionsproblemen aus, bei Frauen durch das Gefühl, dass Sex in seiner aktuellen Form nicht ansprechend ist. Der Paar- und Sexual- sowie Traumatherapeut David Schnarch (Die Psychologie sexueller Leidenschaft) sieht in reduziertem Verlangen sogar großes Potenzial: Weniger Sex in langjährigen Beziehungen sei normal und biete Raum für Weiterentwicklung und tiefere Intimität.
Hierbei ist das Dual Control Modell von Sexualverhalten besonders relevant, das von John Bancroft und Michael S. Exton-Smith entwickelt wurde. Es beschreibt, dass sexuelles Verlangen durch zwei Systeme reguliert wird: das „Hemmungssystem“ und das „Erregungssystem“. Das Hemmungssystem (Bremspedal) reagiert auf negative Erfahrungen, Ängste oder Stress und kann das sexuelle Verlangen blockieren, während das Erregungssystem (Gaspedal) durch positive Reize und emotionale Verbindung aktiviert wird.
Darüber hinaus zeigen Pornos und die Hollywoodbranche selten, wie Sex nach Jahren funktioniert, sondern fokussieren auf die Leidenschaft frischer Beziehungen oder flüchtiger Begegnungen und zeigen dazu häufig noch ein verzehrtes Bild. Peggy Kleinplatz’ Studie (Magnificent Sex) beschreibt jedoch, dass erfüllte Sexualität in langjährigen Beziehungen möglich ist. Menschen, die seit über 25 Jahren zusammen sind und nach eigenen und Partneraussagen über lange Zeit eine wunderbare Sexualität leben, berichten, dass Präsenz, Authentizität, Verletzlichkeit, Hingabebereitschaft und eine tiefe emotionale Verbindung die Schlüssel zu wunderbarem Sex sind.
Auch hormonelle Veränderungen spielen laut Marnia Robinson (Das Gift an Amors Pfeil) eine Rolle: Nach etwa einem Jahr in einer Beziehung verändert sich der Hormon-Cocktail im Gehirn, der zu Beginn für Aufregung und Anziehung sorgt – wir sollen uns fortpflanzen. Nach einer gewissen Zeit sollen wir jedoch weiterziehen, um den Genpool so groß wie möglich zu halten und unsere Spezies zu erhalten. Wir werden weniger auf unseren Partner fokussiert und suchen möglicherweise unbewusst nach neuen Reizen. Doch genau hier kann verbundener Sex und das Bindungshormon Oxytocin helfen, wieder Nähe und Verbundenheit herzustellen.
Eine weitere interessante Perspektive bietet eine Studie der Universität Guelph: Frauen berichten schneller von Langeweile in ihrem Sexleben und wünschen sich mehr Abwechslung, während Männer oft mit der gemeinsamen Schnittmenge zufrieden sind.
Meine persönliche Erfahrung
Für mich war das Thema sexuelle Unlust eine tiefe, persönliche Auseinandersetzung. Durch häufige vaginale Krankheiten und Schmerzen beim Sex musste ich mich intensiv mit meinem eigenen Körper auseinandersetzen. Die Lösung lag oft darin, mehr Zeit für das Vorspiel zu nehmen und meinen gesamten Körper einzubeziehen – nicht nur die Vagina. Der weibliche Körper benötigt oft 20 bis 40 Minuten, um für penetrativen Sex bereit zu sein.
Auch emotional spielt die Balance in der Partnerschaft eine große Rolle: Wo es in der Beziehung zu Ungleichgewicht kam – sei es im Haushalt, der Kindererziehung, bei den Finanzen oder der Zeit für mich – zog ich mich sexuell zurück. Ganz dem Credo: „Das gebe ich ihm jetzt nicht auch noch…“
Insgesamt lag die tiefgreifendste Erkenntnis darin, dass ich mich durch das Entziehen der Sexualität zwischen mir und meinem Partner willentlich der Intimität und Verletzbarkeit entzog. Wenn mir mein Partner zu nah kam, machte ich mich unnahbar und hielt ihn auf Abstand, aus Angst, verletzlicher zu werden. Diese Distanz hatte ihre Wurzeln im frühen Verlust meines Vaters; ich wollte mich nicht emotional weiter öffnen, aus Angst, erneut mit einem äußerst schmerzlichen Verlust konfrontiert zu werden, falls ich verlassen werden sollte. Diese Ängste beeinträchtigten nicht nur unsere emotionale Verbindung, sondern wirkten sich auch negativ auf unsere sexuelle Beziehung aus. Sobald diese Erkenntnis in meinem Bewusstsein angekommen war, konnte ich auch hier erneut die sexuelle Unlust gehen lassen.
Was hilft langfristig?
Sexuelle Unlust ist vielschichtig und verlangt oft eine tiefere Auseinandersetzung. In kommenden Blog-Artikeln werde ich auf die verschiedenen Aspekte dieses Themas detaillierter eingehen und auch die wissenschaftliche Perspektive einbeziehen. Dabei geht es nicht nur um Ursachenforschung, sondern auch um konkrete Impulse zur Selbsthilfe, um Wege aus der sexuellen Unlust zu finden und eine erfüllte Sexualität zu leben.